Raus aus der Komfortzone!

Ein nicht ganz normaler Tag im Winter.

Blick aus dem Fenster

Als wir vor ein paar Wochen von Freunden zum Adventswochenende in die Nähe von Schwerin eingeladen wurden, war für mich sofort klar, ich nehm das Rad. Die Strecke von Hamburg ins westliche Mecklenburg-Vorpommern ist sehr kurzweilig und echt schön zu fahren. Bei normalen Bedingungen. Aber was ist schon normal?

Und so vergingen die letzten Tage und mit einem mal ist der Winter über Norddeutschland reingebrochen. Ein seltenes Phänomen, das neben vielen anderen Verkehrsteilnehmern natürlich auch uns Radfahrer betrifft. Ich kenne viele, die machen schon Ende September Schluss. Mit dem ersten Regentropfen endet (für sie) die Outdoor-Saison. Ich fahre aber eigentlich bis nix mehr geht – auch wenn ich manchmal ganz gerne virtuell in Watopia unterwegs bin.

An diesem Samstag sollte es also losgehen. „Schlappe“ 140km. Fünf Stunden hatte ich dafür eingeplant und ich wusste, es würde schwer werden. Wie schwer, das ahnte ich schon vor der Haustür. Meine größte Sorge – dass Straßen oder Wirtschaftswege nicht ausreichend geräumt sind – hat sich nicht bestätigt. Fast die komplette Strecke war gründlich gestreut und damit gut befahrbar. Aber: Durch das Salz waren die Straßen ausnahmslos nass. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt und einsetzendem Schneefall hieß das, dass sich bereits nach wenigen Kilometern Feuchtigkeit und Kälte auf mir niederließen. Und natürlich war da auch Wind. Zwar überwiegend von schräg hinten, aber er war da und kühlte meinen Körper gnadenlos runter. Für mich bedeutete das, volle Konzentration und immer in Bewegung bleiben. Ich durfte den Umgebungsvariablen in keinem Fall die Herrschaft überlassen, das hieße Game Over.

Borstorfer Wald

Minütlich checkte ich mein Befinden. Von oben nach unten und von unten nach oben. Wo sind die Schwachstellen, was könnte passieren, wenn…? Das Gesicht war durch Buff und Brille geschützt, ich hatte eine Pappe im unteren Rücken, der Rest GoreTex allover – und mit den neuen Handschuhen waren selbst die Hände in passablem Zustand. Aber die Füße… OMG! Die dicken Winterschuhe hatten sich durch das permanente Spritzwasser schnell in kleine Eisbecken verwandelt. Gefühl in den Zehen nahezu null.

Abbruch oder Amputation?

Nach knapp 60km fiel ich in Mölln vom Rad und kroch in eine Tankstelle. Ich halte sehr ungerne an, aber ich musste (!) jetzt (!) wieder auf Temperatur kommen. Die Durchblutung ankurbeln. Ein großer schwarzer Kaffee mit Zucker, ein belegtes Brötchen. Schöön. Erst auf dem Barhocker in der warmen Tanke merkte ich, wie viel Eis und Wasser von mir herabtropften. Die Pause war mehr als notwendig, aber das „Projekt Schwerin“ stand hier und jetzt auf Messers Schneide.

Kein Ort zum Verweilen

Denn unmittelbar, als sich die Automatiktür öffnete, um mich auf die verbleibenden 80km zu entlassen, übernahm die Kälte meinen Körper.
Leute, das könnt ihr euch nicht vorstellen. Ich saß auf dem Rad und fing an zu schlottern. Eine Zitterwelle nach der anderen überrollte meinen Körper. Fast wie bei epileptischen Anfällen. Alles krampfte. Ich hatte große Mühe, das Rad im dichten Verkehr auf der Straße zu halten, aber ich wusste, ich musste irgendwie weiter. In der Hoffnung, dass der Kaffee bald wirken würde. Was wäre denn die Alternative? Hatte Mölln überhaupt einen Bahnhof oder Taxistand?

Durch gezielte Bauchatmung konnte ich mich fürs Erste beruhigen. Die Straßen wurden schmaler, es ging mitunter gut bergauf. Und tatsächlich kam auch mein Kreislauf langsam wieder in Schwung.

Kurz vor Zarrentin, direkt an der ehemaligen innerdeutschen Grenze, kam ich in einen Verkehrsunfall. Zwei Autos waren kollidiert, die Airbags aufgeblasen, auf der Straße viel Öl und zerbeultes Blech. Einige Ersthelfer waren schon zu Gange, Feuerwehrzug und Notarzt trafen gerade ein, so dass ich mich guten Gewissens schleichen konnte. Einige Kilometer fuhr ich mit Gänsehaut. Ich wusste, auch ich war noch nicht über den Berg, aber mir ging es schon deutlich besser. Beim nächsten Bäcker gleich noch einen Cappuccino und einen Berliner – kurz anhalten, noch mal die Füße massieren. Und weiter.

Schloss Badow

Es waren noch gut zwei Stunden zu fahren, aber jetzt lief es deutlich besser. Nach 95km wusste ich, ich würde es schaffen. Die Wärme kam zurück und mit ihr die Endorphine. Und dann waren da diese mega coolen Straßen. Genau die waren ja auch der eigentliche Grund gewesen, dass ich das Rad nehmen wollte. Kleine einspurige Achterbahnen mit moderaten Steigungen. Alte Gutshäuser, hier und da ein Kiefernwäldchen. Herrlich!

Punktlandung

Um kurz nach vier rollte ich am Ortsschild von Banzkow vorbei und war erfüllt von einer unbeschreiblichen Stimmung. Ich hatte es geschafft. Woohoo!
Und genau zwei Minuten später trafen Freunde und Familie ein, um mich in Empfang zu nehmen.

Am Ziel in Banzkow

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